Arzt muss über mögliche Behinderung eines ungeborenen Kinds aufklären

(DAV). Der Angst vor einem behinderten Kind begegnen werdenden Eltern mitunter mit einer Reihe spezieller Untersuchungen. Stellen Ärzte dabei fest, dass das ungeborene Kind mit 12%iger Wahrscheinlichkeit schwerbehindert sein wird, müssen sie darüber aufklären.

Das berichtet die Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) mit Verweis auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 19. Februar 2020 (AZ: 7 U 139/16). Die werdende Mutter hatte sich insbesondere wegen der Frage möglicher Missbildungen in die spezialisierte Behandlung von Klinikärzten begeben. Zuvor hatte die Frau bereits eine Schwangerschaft abgebrochen, als bei dem ungeborenen Kind das Turner-Syndrom diagnostiziert wurde.

Die Ärzte stellten im Rahmen eines MRT im November 2011 fest, dass das ungeborene Kind an einer Balkenagenesie litt – der Balken zwischen den beiden Gehirnhälften fehlt. In solchen Fällen kommen zwar die meisten Kinder gesund zur Welt, ein Viertel von ihnen muss allerdings mit einer Behinderung leben.

Ärzte klären werdende Eltern nicht über Risiko einer Behinderung auf – Schadensersatz

Vor Gericht forderten die Eltern Schadensersatz, weil sie über das Risiko, ein schwer behindertes Kind zu haben, nicht ausreichend aufgeklärt worden seien. Die Ärzte hätten erwähnen und dokumentieren müssen, dass sie als Eltern zu 25 % mit einem behinderten und zu 12% mit einem schwer behinderten Kind zu rechnen hätten. Die Frau hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass sie sich einem behinderten Kind nicht gewachsen fühle und beim Risiko einer Behinderung die Schwangerschaft abbrechen würde.

Die Richter gaben in zweiter Instanz den Eltern Recht. Sie zeigten sich nach der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Arzt die werdenden Eltern bei der Besprechung des MRT-Befundes nicht auf die Möglichkeit einer schweren Behinderung hingewiesen hatte.

Es sei deutlich, dass sich die Eltern in die Behandlung der Ärzte begeben hätten, um möglichst frühzeitig über Schädigungen des ungeborenen Kindes informiert zu werden. So hätten sie neben der üblichen Betreuung durch ihre Frauenärztin frühzeitig die Klinik zur sonografischen Feindiagnostik aufgesucht.

Massive psychische Folgen für Mutter eines schwer behinderten Kinds – Schmerzensgeld

Das MRT habe für die Eltern das alleinige Ziel gehabt, mögliche Auffälligkeiten frühzeitig zu erkennen, um dann eigenverantwortlich reagieren zu können. Darüber hinaus habe insbesondere ein Arzt gewusst, dass die Frau sich mit der Frage, ein möglicherweise gesundheitlich beeinträchtigtes Kind auszutragen, in besonderer Weise auseinandergesetzt habe.

Weil der Arzt sie nicht auf die Möglichkeit einer schweren Behinderung hingewiesen habe, habe die Frau entschieden, das Kind auszutragen. Hätte sie von einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer schweren Behinderung gewusst, hätte sie die Schwangerschaft auf legalem Wege abgebrochen.

Auch einen Psychiater als Sachverständigen zog das Gericht hinzu und kam zu dem Ergebnis: Der Schwangerschaftsabbruch wäre aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt bereits absehbaren außergewöhnlich schweren psychischen Folgen für die Mutter gerechtfertigt gewesen.

Die Frau pflegt und betreut ihr behindertes Kind durchgehend und ist psychisch stark belastet. Sie leidet seit der Geburt ihres behinderten Kinds an einer depressiv-ängstlichen Entwicklung bzw. Anpassungsstörung. Das äußert sich etwa in Deprimiertheit und Freudlosigkeit, Ängsten und Sorgen wegen der Krankheitssymptome des Kinds. Hinzu kommen Schlafstörungen wegen der Angst um das Kind.

Unter anderem sprach das Gericht der Mutter mit Blick auf diese schwerwiegenden psychischen Folgen ein Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro zu.

Quelle: www.dav-medizinrecht.de

Pressemitteilung vom 15.06.2020

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