BSG ändert Rechtsprechung zur Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V
Stellen Versicherte bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Leistungen, muss die Kasse hierüber innerhalb kurzer Fristen entscheiden. Versäumt sie die Frist, gilt die Leistung nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V als genehmigt. Das BSG hat nun unter Aufgabe früherer Rechtsprechung entschieden, dass diese Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Anspruch auf die beantragte Sachleistung begründet. Sie vermittelt dem Versicherten (nur) eine vorläufige Rechtsposition, die es ihm erlaubt, sich die Leistung selbst zu beschaffen.
Die Kasse muss die Kosten der selbstbeschafften Leistung trotzdem erstatten – aber nur, wenn der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung „gutgläubig“ war. Dies ist dann der Fall, wenn er weder Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des Anspruchs hatte.
Die durch die Genehmigungsfiktion eröffnete Möglichkeit der Selbstbeschaffung endet, wenn über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden worden ist oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat. Die bestandskräftige Entscheidung über den Leistungsantrag vermittelt dem Versicherten positive Kenntnis darüber, ob die beantragte Leistung beansprucht werden kann. Während eines laufenden Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens bleibt das Selbstbeschaffungsrecht erhalten, solange der Versicherte gutgläubig ist.
Bundessozialgericht, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R
- offenbar bisher nicht veröffentlicht -
Gewichtsabnahmeberatung keine „medizinische Behandlung“
Der Vertrag über eine Therapie zur Gewichtsabnahme stellt einen Dienstleistungsvertrag, keinen Behandlungsvertrag i.S.v. § 630a BGB dar, wenn die abstrakte Feststellung von Übergewicht an sich keine fachliche Qualifikation erfordert und auch kein individuelles Beschwerde- oder Leidensbild einer heilkundlichen oder ernährungsberatenden Behandlung unterzogen wird. Aus einem solchen Vertrag können keine Ansprüche wegen mangelhafter Leistung geltend gemacht werden, weil das Gesetz keine solchen Ansprüche vorsieht.
Amtsgericht Frankfurt, Urteil vom 22.03.2020 – 31 C 2664/18 (23)
- veröffentlicht bei juris.de -
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie erstreitet Belegarztanerkennung
Bei der Entscheidung über eine Belegarztanerkennung ist im Rahmen der Prüfung der Voraussetzung der ausreichenden Nähe des Arztes zum Belegkrankenhaus i.S.v. § 39 Abs. 5 Nr. 3 BMV-Ä neben der Erreichbarkeit innerhalb von ca. 30 Minuten auch das Vorliegen einer für die Belegarzttätigkeit relevanten Kooperationsform mit anderen Ärzten zu berücksichtigen.
Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 22.01.2020 – L 12 KA 10/19
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PKV muss Kosten einer PID-Behandlung nicht erstatten
Ein privater Krankenversicherer muss die Kosten einer begleitend zu einer In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) durchgeführten Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht erstatten.
Diese Maßnahmen stellen keine Heilbehandlung dar. Denn sie zielen nicht darauf ab, beim Versicherten eine Veränderung des Gesundheitszustandes zu bewirken. Ziel der PID ist es nicht, dessen etwaige körperliche oder geistige Funktionsbeeinträchtigungen zu erkennen, zu heilen oder zu lindern. Vielmehr war die PID im entschiedenen Fall allein darauf gerichtet, Embryonen zu erkennen, die einen Gendefekt tragen, um diese Embryonen von der weiteren Verwendung bei der IVF-Behandlung auszuschließen. Diese zum Zwecke einer Aussonderung vorgenommene Bewertung der Embryonen nach medizinischen Kriterien soll künftiges Leiden eines eigenständigen Lebewesens vermeiden, nicht aber ein Leiden eines Elternteils oder auch beider Eltern behandeln.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.05.2020 – IV ZR 125/19
https://t.ly/gSkn
Zur Darlegungslast beim Vorgehen gegen Internetbewertungen
Ein Arzt, der als Kläger gegen eine negative Bewertung seiner Person im Internet vorgeht, trägt grundsätzlich die primäre Darlegungslast dafür, dass der Bewertungsverfasser tatsächlich Patient bei ihm war. Die beklagte Betreiberin der Bewertungsplattform trägt insofern lediglich eine sekundäre Darlegungslast. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der klagende Arzt sich mit den streitigen Behauptungen und vorgelegten Unterlagen substantiiert auseinandersetzt, statt den Behandlungskontakt lediglich pauschal zu bestreiten. Zu einer substantiierten Auseinandersetzung gehört es, die Patientenunterlagen in dem maßgeblichen Zeitraum auf den konkreten streitigen Vorfall hin zu durchsuchen und einen konkreten abweichenden Verlauf zu behaupten.
Oberlandesgericht Brandenburg, Beschluss vom 05.03.2020 – 1 U 80/19
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Kein Anspruch auf Wiederveröffentlichung positiver Patientenbewertungen
Schutzgut des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist auch der „gute Ruf“ eines Unternehmens, das unternehmerische Ansehen, welches maßgeblich durch Bewertungen auf Bewertungsportalen mitbestimmt wird, so dass in einer Löschung von positiven Bewertungen auch ein Eingriff in den Schutzbereich liegen kann.
Der Portalbetreiber ist nicht verpflichtet, offenzulegen, wie der von ihm eingesetzte Algorithmus zum Aufspüren verdächtiger, also nicht „authentischer“, sondern vom bewerteten Arzt selbst beeinflusster Bewertungen funktioniert. Hierbei handelt es sich um ein nicht zu offenbarendes Geschäftsgeheimnis, denn wenn dem Verkehr dieses bekannt würde, würden seitens der Ärzte bzw. seitens von diesen beauftragten Agenturen Umgehungsmöglichkeiten entwickelt. Der Portalbetreiber würde durch die Offenlegung sein eigenes Geschäftsmodell gefährden.
Eine (sekundäre) Darlegungslast hinsichtlich der Löschung von positiven Bewertungen trifft den Portalbetreiber erst dann, wenn der Bewertete konkrete Anhaltspunkte dafür vorträgt und ggf. unter Beweis stellt, dass die Löschung nicht aufgrund eines begründeten Verdachts hinsichtlich der Validität der Bewertungen erfolgt ist, sondern entweder willkürlich oder aus sachfremden Gründen.
Es bleibt dabei: Nach der Kündigung eines sog. Premiumpakets Gold bei Jameda besteht kein Anspruch eines (Zahn-)Arztes auf Wiederveröffentlichung positiver Bewertungen auf dem Internetbewertungsportal. Das für den Fall einer angestrebten Löschung von Negativbewertungen entwickelte höchstrichterliche Prüfungsschema hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast ist auf Fälle einer erstrebten Wiederveröffentlichung von positiven Bewertungen entsprechend zu übertragen.
Oberlandesgericht München, Urteil vom 27.02.2020 – 29 U 2584/19
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Jameda als „neutrale Informationsmittlerin“ bestätigt
Ein Ärztebewertungsportal (hier: Jameda) erfüllt eine von der Rechtsordnung gebilligte und gesellschaftlich erwünschte Funktion, sofern der Betreiber als neutraler Informationsmittler auftritt. Dies ist im Hinblick auf die Jameda GmbH der Fall. Anders als in früher vom BGH entschiedenen Konstellationen liegen keine verdeckten Vorteile für sog. Prämienkunden (mehr) vor. Für den Nutzer ist vielmehr klar ersichtlich, dass für geschaltete Anzeigen, die als solche bezeichnet und farblich unterlegt sind, eine Vergütung zu entrichten ist. Es fehlt demnach nicht an der erforderlichen Transparenz.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 09.04.2020 – 16 U 218/18
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Werbung für „perfekte Zähne“ durch Zahnschienen-System ist rechtswidrig
Eine Kieferorthopädin bewarb auf ihrer Homepage „eine kostengünstige individuelle Zahnspange für Leute, die wenig Zeit haben und trotzdem perfekte Zähne haben möchten“. Eine Wettbewerberin nahm sie erfolgreich auf Unterlassung in Anspruch.
Wie das LG zuvor erkannte das OLG Frankfurt am Main einen Verstoß gegen § 3 S. 2 Nr. 2a HWG. Die Kieferorthopädin habe fälschlich den Eindruck erweckt, dass ein Erfolg der beworbenen Behandlung mit Sicherheit erwartet werden könne. Es gehe um die Korrektur von Zahnfehlstellungen. Der Umstand, ob Zähne gerade seien oder nicht, lasse sich vom Standpunkt eines objektiven Betrachters beurteilen und werde in der Werbung auch fotografisch dargestellt. Somit enthalte die Werbeaussage einen objektiven Tatsachenkern und ein Erfolgsversprechen. Einer „reklamehafte Übertreibung“ liege nicht vor. Ärzten werde aufgrund ihres Heilauftrags besonderes Vertrauen entgegen gebracht; ihre Werbeaussagen und Internetauftritten werde eher als anderen Glaube geschenkt.
Oberlandesgericht Frankfurt, Urteil vom 27.02.2020 – 6 U 219/19
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Zahnarzt-Werbung darf nicht wie öffentlich-rechtlich organisierter Notdienst wirken
Eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis darf nicht durch Werbung auf einer Internetseite den Eindruck erwecken, dass es sich bei ihrem eigenen Notdienst um den kassenärztlichen Notdienst handelt. Eine solche Werbung ist im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 UWG irreführend.
Die Zahnärztekammer Nordrhein hat eine Praxis deswegen erfolgreich auf Unterlassung in Anspruch genommen. Die von den Beklagten genutzte Internetadresse lasse nicht erkennen, dass es sich um die Internetseite einer Praxis oder einer Zahnklinik handele, so das Gericht. Vielmehr sei der Domainname sehr allgemein gehalten. Das Notdienstangebot der Zahnärzte werde auf der Seite besonders hervorgehoben, ohne dass ersichtlich sei, dass es sich dabei um einen von ihnen selbst organisierten Notdienst handelt. Eine erst durch „Scrollen“ sichtbare Klarstellung am Ende der Internetseite konnte die Zahnärzte nicht entlasten.
Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 24.04.2020 – 6 U 140/19
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Zur Zulässigkeit von Warnstreiks in Betrieben der Gesundheitsvorsorge
Streiks sind auch in Betrieben der Gesundheitsvorsorge möglich. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von Streiks in Betrieben der Gesundheitsfürsorge ist die Sicherstellung eines Notdienstes. Für die notwendige Gestaltung des Notdienstes ist die Arbeitgeberseite darlegungsbelastet.
Arbeitsgericht Gießen, Urteil vom 06.03.2020 – 9 Ga 1/20
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EuGH: Abgabe kostenloser Arzneimittelmuster an Apotheker ist unzulässig
Pharmazeutische Unternehmen dürfen keine Gratismuster verschreibungspflichtiger Arzneimittel an Apotheker abgeben. Die Abgabe von Gratismustern nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel ist dagegen nach Unionsrecht nicht verboten.
Das Pharmaunternehmen Novartis stellt das Arzneimittel Voltaren Schmerzgel mit dem Wirkstoff Diclofenac her. Im Jahr 2013 gaben ratiopharm-Mitarbeiter mit der Aufschrift „zu Demonstrationszwecken“ versehen versehene 100g-Packungen dieses Arzneimittels kostenlos an deutsche Apotheker ab. Novartis sah darin einen Verstoß gegen § 47 Abs. 3 AMG.
Der EuGH entschied, dass der Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel (EU-Richtlinie 2001/83/EG) es pharmazeutischen Unternehmen nicht erlaubt, Gratismuster verschreibungspflichtiger Arzneimittel an Apotheker abzugeben. Solche Muster dürfen nur zur Verschreibung der ärztlichen Verschreibungspflicht unterliegender Arzneimittel berechtigte Personen – also Ärzte – erhalten. Allerdings werde Apothekern durch den Kodex nicht die Möglichkeit genommen, im Rahmen des nationalen Rechts Gratismuster nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel zu erhalten, damit sie sich mit neuen Arzneimitteln vertraut machen und Anwendungserfahrungen sammeln können.
Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 11.06.2020 – C‑786/18
https://t.ly/KLqe
Versandhandel: Rezeptsammelbox im Supermarkt ist zulässig
Eine Präsenzapotheke mit Erlaubnis zum Versand apothekenpflichtiger Arzneimittel im örtlichen Einzugsbereich ihrer Apotheke darf eine Einrichtung zum Sammeln von Verschreibungen und
Arzneimittelbestellungen in einem Supermarkt betreiben und die hierüber bestellten Medikamente durch eigene Boten ausliefern.
Hiergegen ist rechtlich nichts einzuwenden, wenn die Sammel-Einrichtung von einer Versandhandelserlaubnis umfasst ist. Die Vorschriften des Apotheken- und des Arzneimittelrechts über den Versand von apothekenpflichtigen Arzneimitteln schließen eine Zustellung durch eigene Boten einer Apotheke weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Regelungszweck aus. Dem Begriff des Versandhandels unterfällt auch ein Vertriebsmodell, das auf einen Versand im örtlichen Einzugsbereich der Apotheke ausgerichtet ist und hierfür eigene Boten der Apotheke einsetzt. Die Arzneimittelsicherheit ist nicht mehr gefährdet als beim Versand über größere Entfernungen mittels externer Versanddienstleister.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.04.2020 – 3 C 16.18
- bisher offenbar nicht veröffentlicht -
Zur Einordnung eines Produkts als Präsentationsarzneimittel
Ob ein Erzeugnis ein Präsentationsarzneimittel i.S.d. § 2 AMG darstellt, ist im Einzelfall anhand einer Gesamtbetrachtung der konkreten Merkmale des Produkts und seiner Präsentation zu bestimmen. Zu berücksichtigen sind die stoffliche Zusammensetzung des Erzeugnisses, seine Darreichungsform und Verpackung ebenso wie seine Bezeichnung, der Beipackzettel mit möglichen Hinweisen auf pharmazeutische Forschungen oder ärztliche Zeugnisse über bestimmte Eigenschaften, sowie weitere dem Hersteller zurechenbare Informationen, Veröffentlichungen und Produktwerbung, die für den Verbraucher verfügbar sind. Dazu gehören auch solche Informationen, die dem Verbraucher erst auf seine Anfrage vom Hersteller oder von Dritten, die in dessen Auftrag handeln oder mit diesem in Verbindung stehen, zugänglich gemacht werden.
Die Angaben auf der Verpackung einerseits sowie anderseits der mit möglichen Hinweisen auf pharmazeutische Forschungen oder ärztliche Methoden oder Zeugnisse versehene Beipackzettel können zwei nebeneinander stehende Kriterien zur Bewertung des Erscheinungsbildes eines Produkts sein. Die Verpackung kann mithin neben anderen Aspekten im Rahmen der erforderlichen Gesamtbetrachtung auch dann Bedeutung für die Einordnung eines Produkts als Präsentationsarzneimittel haben, wenn sie (lediglich) durch die bildliche Darstellung der darin enthaltenen Pflanzenstoffe an eine bestimmte Verkehrsauffassung anknüpft.
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.02.2020 – 13 A 3137/17
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Hustensaft als Präsentationsarzneimittel: Arzneimittel-Zulassung erforderlich
Erweckt die Präsentation eines Produktes den Eindruck, dass es heilende Wirkungen im Sinne eines Arzneimittels hat, liegt ein so genanntes Präsentationsarzneimittel (§ 2 Abs. 1 AMG) vor. Weist der Hersteller nicht durch Vorlage eines vollständigen Bescheids des Bundesinstituts für Arzneimittel nach, dass das Produkt behördlicherseits nicht als Arzneimittel eingestuft wird, ist der Vertrieb als bloßes Medizinprodukt zu unterlassen. Ein Hustensaft ohne Arzneimittelzulassung darf also nicht als Präsentationsarzneimittel in den Verkehr gebracht werden.
Für die Bewertung als Arzneimittel reicht aus, dass einem Produkt (beispielsweise durch seine Gestaltung) dem „durchschnittlich informierten und verständigen Durchschnittsabnehmer“ gegenüber pharmakologische Wirkungen beigemessen werden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Produkt ausdrücklich als Arzneimittel dargestellt wird.
Oberlandesgericht Frankfurt a. M., Urteil vom 22.05.2020 – 6 U 23/20
https://t.ly/Qzjy